Antigone im Amazonas

Reenactment, Videoinstallation und Theaterperformance

 

„Ungeheuer ist viel, doch nichts ist ungeheurer als der Mensch.“

 

Die Bilder des brennenden Amazonas versetzten vergangenen Sommer die Weltöffentlichkeit in Aufruhr. Mit dem von Präsident Bolsonaro lautstark unterstützten Angriff des brasilianischen Agrobusiness auf den größten zusammenhängenden Urwald der Erde ist jedoch nicht nur die „grüne Lunge“ des Planeten bedroht – sondern auch die dort lebenden Völker und ihre jahrtausendealten Traditionen. Nach seinen weltweit debattierten Inszenierungen „Orest in Mossul“ in der ehemaligen Hauptstadt des Islamischen Staats und dem Jesus-Film „Das Neue Evangelium“ in den süditalienischen Flüchtlingslagern reisen Milo Rau und sein Team für den Abschluss ihrer Antiken-Trilogie nach Brasilien ins Amazonasbecken. Im Bundesstaat Pará schürt die Regierung durch große Minenprojekte, den Bau von Staudämmen und die staatliche Förderung von Sojamonokulturen seit Jahrzehnten Landkonflikte. Zusammen mit Indigenen, Aktivist*innen und Schauspieler*innen aus Brasilien und Europa entsteht auf einem besetzten Landstück die „Antigone“ neu: als blutiges Aufeinandertreffen von traditioneller Weisheit und globalem Turbokapitalismus, als Epos des Kampfes der Menschheit gegen ihren selbst verschuldeten Untergang in Profitgier, Verblendung und Hybris.

 

Wohl gerade aufgrund der archetypischen Einfachheit der Handlung hat keine andere klassische Tragödie so viele Adaptionen erfahren wie Sophokles’ „Antigone“, geschrieben 472 vor Christus: Als Antigone ihren Bruder Polyneikes bestattet, verstößt sie damit gegen das Be-stattungsverbot des Königs Kreon, gilt Polyneikes ja als Staatsfeind. Der Philosoph Hegel sah in der Auseinandersetzung zwischen Antigone und Kreon die Auseinandersetzung von traditionalem, göttlichem Recht und rationalem, modernem Staat. Für die Philosophin Judith Butler dagegen untergräbt Antigone die bestehende symbolische Ordnung noch radikaler: nämlich von ihrer utopischen Außenseite her, von einem grundsätzlich anderen Entwurf des Zusammenlebens der Menschen, von Lebenden und Toten, von Mensch und Natur.

 

Nach seinen Prozess- und Politprojekten („Das Kongo Tribunal“, „Gene-ral Assembly“) und Erzähl- und Repräsentationsstücken („Die Europa Trilogie“, „Mitleid“, „Die Wiederholung“) hat sich Milo Rau seit einiger Zeit den Gründungsmythen der modernen Gesellschaft zugewandt. In Mossul, bis vor zwei Jahren die Hauptstadt des IS, inszenierten Rau und sein Team im vergangenen April mit irakischen und europäischen Schauspieler*innen „Orest in Mossul“ (2019) nach der „Orestie“ von Aischylos. Mitten im Kriegsgebiet stellte das Ensemble die vielleicht drängendste Frage aller Zivilisationen: Wie das Tragische enden kann, wie Verzeihen und damit ein Neuanfang möglich wird. Im „Neuen Evangelium“ (2019/20), in dem Rau in und um die Europäische Kulturhauptstadt Matera mit Flüchtlingen, Laien und Schauspieler*innen aus den Jesus-Filmen von Pasolini und Mel Gibson zusammenarbeitete, adaptierte er die sozialrevolutionäre Botschaft der Bibel für das 21. Jahrhundert – und dokumentierte gleichzeitig den Versuch einer Revolte für die Rechte der Migrant*innen, die auf den Tomatenplantagen von der Mafia ausgebeutet werden.

 

Das Projekt „Antigone im Amazonas“ schließt diese Beschäftigung mit den großen Mythen und Menschheitsfragen ab, und wie in den Vorgängerprojekten lautet auch hier Raus Frage: welche Darsteller*innen, welche politische Konstellation lässt diesen Text um das Aufeinandertreffen von traditioneller und moderner Gesellschaft neu zu uns sprechen? Für die Inszenierung der „Antigone“ begeben sich der Regisseur und sein Team deshalb in den brasilianischen Bundesstaat Pará, wo die staatlich geförderten Minenprojekte und Sojamonokulturen sich in die Wälder des Amazonas ausdehnen und gleichsam die Natur auffressen. In Zusammenarbeit mit MST – Movimento dos Trabalhadores Sem Terra, der weltweit größten Landlosenbewegung – erarbeiten sie ein Lehrstück über die gewaltsamen Verwüstungen und Vertreibungen durch den modernen Staat, der den Privatbesitz – und damit den weltweiten Handel und die Spekulation – über das traditionelle Recht auf Boden stellt.

 

Die Rededuelle zwischen Antigone und Kreon, aber auch die seit 2500 Jahren immer neu interpretierten Chorpassagen erhalten so einen neu-en Sinn: als Aufeinandertreffen der liberalen Weltordnung mit der ho-listischen Kosmologie der indigenen Völker Brasiliens, die im Zeitalter des drohenden Klimakollapses einen zukunftsweisenden Umgang mit der Natur pflegen. „Ungeheuer ist viel, nichts ist aber ungeheurer als der Mensch“: Die Kritik des Sophokles an der menschlichen Hybris, an der Ideologie der Verwertung und der Machbarkeit, die Frage nach der Berechtigung staatlicher Gewalt und des zivilen Widerstands spie-geln sich aber auch im Cast selbst, in den Geschichten der Beteiligten Darsteller*innen und der Debatten, die sich untereinander entwickeln. Wie in „Orest in Mossul“ oder „Das Neue Evangelium“ treffen auch bei „Antigone im Amazonas“ europäische und einheimische Schauspie-ler*innen, Laien und Profis aufeinander.

 

Antigone wird von der indigenen Schauspielerin Kay Sara gespielt, die in einem Dorf der Tukano im Amazonas aufgewachsen ist. In der Rolle der Ismene ist eine schwarze Aktivistin, die in einem „Quilom-bo“ groß wurde, einer traditionellen Siedlung von entflohenen schwarzen Sklaven. Der Chor wird von Aktivist*innen der Landlosenbewegung verkörpert, die im Amazonas ihren Anspruch auf die Landnutzung gegenüber den Großgrundbesitzer*innen und Spekulant*innen verteidigen. In einer Parallele zur Vorgeschichte von „Antigone“, der Revolte Polyneikes‘ gegen den Staat, steht das Massaker von El Dorado do Carajas, bei dem 1996 auf einer Straße 19 Landlose von der Polizei erschossen wurden, am Anfang der Erzählung. Der tote Polyneikes verweist auf einen ermordeten Aktivisten. Kreon wird von Celso Frateschi gespielt, einem etablierten Schauspieler, Regisseur und linken Politiker aus der weißen Oberschicht in São Paulo, nicht etwa von einem rechten Überzeugungstäter sondern einem, der mit seiner Macht hadert. Haimon, der Sohn Kreons und Antigones Verlobter, wird vom belgischen Schauspieler Arne De Tremerie verkörpert, der – als alter Ego des Regisseurs – neben der todgeweihten Antigone die Rolle des in seinen Privilegien gefangenen Europäers spielt. In der Rolle des blinden Sehers Teiresias, der Kreon die Selbstvernichtung voraussagt, tritt schließlich der Mythos des lateinamerikanischen Theaters auf: der 82jährige Zé Celso, der Erfinder des auf indigenen Traditionen beruhenden brasilianischen Theaters.

 

„Antigone im Amazonas“ wird im November 2020 im brasilianischen Bundesstaat Pará uraufgeführt und dokumentiert. Die Inszenierung gipfelt in einem Reenactment des Massakers von El Dorado do Carajas, bei dem gemeinsam mit den Überlebenden die damaligen Ereignisse am Tatort rekonstruiert und nachgestellt werden. Am 16. Mai 2020 eröffnen die Antigone-Darstellerin Kay Sara und Milo Rau die Wiener Festwochen mit der Rede „Against Integration“. Im Januar 2021 werden Teile der In-szenierung als Videoinstallation im Rahmen der Ausstellung „School of Resistance“ an der Akademie der Künste in Berlin erstmals in Europa gezeigt. Die Theaterperformance „Antigone im Amazonas“ hat im April 2021 am NTGent Premiere, wird danach auf Tour gehen und auch nach Brasilien zurückkehren.

 

„Antigone im Amazonas“ (Reenactment und Videoinstallation) ist eine Produktion des International Institute of Political Murder (IIPM) in Zusammenarbeit mit dem Movimento dos Trabalhadores Sem Terra (MST) und dem NTGent, gefördert durch „COINCIDENCIA – Kulturaustausch Schweiz – Südamerika“ von Pro Helvetia, Kulturstiftung des Bundes und Goethe Institut São Paulo.

„Antigone im Amazonas“ (Theaterperformance) ist eine Produktion des NTGent in Zusammenarbeit mit MST und IIPM.

 

REGIE UND KONZEPT Milo Rau TEXT Milo Rau und Ensemble MIT Kay Sara, Gracinha Donato, Celso Frateschi, Zé Celso, Arne De Tremerie, Célia Maracajá und vielen mehr DRAMATURGIE UND KONZEPT Eva-Maria Bertschy MITARBEIT DRAMATURGIE Carmen Hornbostel, Douglas Estevam und Martha Kiss Perrone BÜHNENBILD UND KOSTÜME Anton Lukas und Ottavia Castellotti KOSTÜMASSISTENZ Gabriela Santos Cherubini VIDEO Moritz von Dungern und Fernando Nogari GRAFIK Nina Wolters TON Vanessa Silva FOTO Armin Smailovic REGIEASSISTENZ Paula Serra PRODUKTIONSLEITUNG Mascha Euchner-Martinez und Gabriela Gonçalves PROJEKTKOORDINATION Maria Raimunda César, Secretaría MST Pará und coletivo national de cultura MST MITARBEIT PRODUKTION Elisa Calosi und Eva-Karen Tittmann PRESSE- UND ÖFFENTLICHKEITSARBEIT Yven Augustin, Tom De Clercq, Márcia Marques und Canal Aberto