Kritikerstreit um „Familie“ / Milo Rau inszeniert „Antigone im Amazonas“ / Dramaturgenkongress in Gent

Wohl noch kein Stück von Milo Rau hat zu solch leidenschaftlichem Lob und zugleich zu so starker Ablehnung geführt wie „Familie“, das am 4. Januar 2020 am NTGent Premiere feierte. Eine echte Familie spielt darin eine Familie, die aus mysteriösen Gründen Selbstmord begeht – und damit den Sinn des Lebens überhaupt in Frage stellt. Eine „säkulare, finstere Messe“ sah der englische Guardian, „gespielt wie ein langsames Stück von Bach“ und verteilte 5 von 5 Sternen. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung erlebte einen Abend von „poetischer Kraft“ und sah den Zuschauer „mit den Rätseln der Welt“ konfrontiert, Nachtkritik erlebte eine „psychologisch ausserordentlich dichte Inszenierung“, Libération sah „das Schreckliche aus dem Hyperalltäglichen“ erstehen, die Kritikerin von Focus Knack verließ das Theater gar „weinend“. Le Soir titelte „Milo Raus Skalpell schlägt wieder zu“, und die niederländische Tageszeitung Trouw resümierte: „Das ist die Magie des Theaters und die schwer fassbare Realität in einem. Selten wurde das Unverständliche so eindrucksvoll ins Theater übersetzt.

 

Doch nicht alle ließen sich durch die „erschütternde Vorstellung“ (De Volkskrant) über den „nihilistischen“ (De Morgen) Inhalt der Inszenierung hinwegtrösten. Während die New York Times einen „Einschlag nahe der Heimat“ erduldete und rekto:verso „diese Familie (als) die ganze Menschheit“ und ihren Suizid als „unseren kollektiven Selbstmord“ erkannte, fragte sich die deutsche ZEIT, ob diese „finstere Alternative zu Fridays for Future“ nicht „vielleicht sogar eine Sünde“ sei. Die Süddeutsche Zeitung fühlte sich von den „Schauereffekten“ des „kontralogischen“ Stücks gepeinigt und vermisste „den kleinsten Hinweis auf das Warum?“ „Geht Milo Rau diesmal zu weit?“, titelte De Standaard in Vertretung vieler Zuschauer, worauf der französische Schriftsteller Edouard Louis in der gleichen Zeitung die Inszenierung verteidigte: „Der Kern des Theaters ist der gleiche wie in der Literatur: zu zeigen, was schwer zu zeigen ist. Theater sollte kein sicherer Ort sein.“ Milo Rau selbst stellt sich seinen Kritikern am 25.1. in einer öffentlichen Debatte am NTGent, bevor das Stück weiter nach Paris, Berlin, Zürich, New York und an viele weitere Orte tourt.

 

Wenn „Familie“ Raus bisher intimstes Stück war, so laufen die Vorbereitungen für sein vielleicht politischstes bereits auf Hochtouren: „Antigone im Amazonas“. Zusammen mit Indigenen, Aktivist*innen und Schauspieler*innen entsteht Sophokles’ „Antigone“ auf einem besetzten Landstück im brasilianischen Amazonas neu: als blutiges Aufeinandertreffen von traditioneller Weisheit und globalem Turbokapitalismus, als Epos des Kampfs der Menschheit gegen ihren selbst verschuldeten Untergang in Profitgier, Verblendung und Hybris. Als Antigone ist, zum ersten Mal in der Geschichte des Theaters, eine indigene Schauspielerin zu sehen, der Chor der Tragödie besteht aus Überlebendenden des bisher größten Massakers der brasilianischen Polizei an Landlosen, Theiresias wird von der südamerikanischen Schauspieler- und Aktivistenlegende Zé Celso gespielt. Die Inszenierung feiert am 17. April 2020 Premiere: auf einer besetzten Bundesstraße durch den Amazonas, an Tag und Ort des Massakers.

 

Doch bevor Raus Team in den Amazonas fährt, lädt es noch einmal ans NTGent: unter dem Titel „Common. Allies, Activists and Alternatives in European Theatre“ findet die Jahreskonferenz der Dramaturgischen Gesellschaft in Gent statt, „der Stadt, die sich durch programmatische Weichenstellungen zu einer Art Zukunftslabor des europäischen Theaters entwickelt“. Vom 6. bis 9. Februar debattieren mehrere hundert Künstler*innen, Aktivist*innen und Intellektuelle über Widerstand und Teilhabe, institutionellen Umbau sowie politische und künstlerische Revolten: Zu sehen sind Stücke, Performances und Opern u. a. von Luanda Casella, Dalilla Hermans, Ersan Mondtag, Action Zoo Humain oder Milo Rau. Exklusiv zur Jahreskonferenz, die zum ersten Mal seit 25 Jahren im Ausland stattfindet, erscheint in Zusammenarbeit mit dem Berliner Verbrecher Verlag zudem das 4. „Golden Book“ des NTGent: „The Art of Resistance“, ein Reader zu globalen Praktiken des Widerstands, herausgegeben von Stefan Bläske, Luanda Casella, Milo Rau und Lara Staal.