Genter Altar, Jesus-Film, Oresteia & Breivik in Beirut: Ausblick auf die Saison 2018/19
„Wärme, Würde und fast kosmische Weisheit“: das NTGent startet 1. Spielzeit mit „Der Genter Altar“
„Künstlerisch kraftvoll, politisch intelligent“, bezeichnete der englische GUARDIAN die Eröffnungsinzenierung „Der Genter Altar“ von Milo Rau in Gent. Und tatsächlich: das moderne Mysterienspiel, in dem über 100 Genter Bürgerinnen und Bürger mitwirken, um den spätmittelalterlichen Altar ins 21. Jahrhundert zu transformieren, begeisterte Publikum und internationationale Presse gleichermaßen.
Einen „Sofort-Klassiker“ sah der Standaard, Le Soir ein „Stück, das in die Geschichtsbücher eingehen wird“, die Süddeutsche Zeitung und der Tages-Anzeiger hinwiederum wohnten einem „theatralem Meisterwerk“ bei und waren berührt von der „Wärme, Würde und geradezu kosmischen Weisheit“ des Abends. Der Deutschlandfunk sah ein genauso „behutsames“ wie „größenwahnsinniges“ Werk, dem französischen Blogger Ronan verschaffte der Abend gar schlaflose Nächte: „Nie habe ich etwas Vergleichbares im Theater erlebt, nie.“ Die ZEIT schließlich schloss über Milo Raus Eröffnungsabend: „Gent darf sich erkannt fühlen.“
„Wege zum globalen Realismus“: Vorträge und Bücher
Ob das von Rau und seinem Team am NTGent ausgerufene „Stadttheater der Zukunft“ jedoch tatsächlich der „Riesensprung“ ist für das zeitgenössische Theater, den sich der GUARDIAN erhofft, wird sich zeigen in den folgenden Genter Inszenierungen von u. a. Luk Perceval, Faustin Linyekula, Monstertruck, Ersan Mondtag oder Lies Pauwels – und in Raus „Oresteia“, für die er und sein Team Mitte November zum ersten Mal nach Mosul reisen. Seine Theorie einer engagierten, globalen und zugleich lokal verwurzelten Kunst wird Rau diese Woche in Paris an der EASTAP – European Association for the study of theatre and performance als „Artiste Associé“ sowie an den HANNAH ARENDT TAGEN mit dem Eröffnungsvortrag „Die Kunst des Widerstands“ weiter ausführen. In ganzer Breite wird Raus künstlerische Praxis und Theorie eines Global-Realismus zudem in dem diesen Herbst im Alexander Verlag erscheinenden Band „Das geschichtliche Gefühl. Wege zum globalen Realismus“ ausgebreitet: Das Buch basiert auf den Vorträgen, die Rau im Rahmen der „Saarbrücker Poetikdozentur für Dramatik“ gehalten hat und bietet einen systematischen Überblick über die Arbeit des IIPM der letzten 10 Jahre.
„Oresteia“ und „Das Neue Evangelium“: Aischylos-Stück in Mosul und Jesus-Film in Matera
„Ist Milo Rau wirklich der kontroverseste Theaterregisseur der Welt?“, fragte die New York Times zur Genter Spielzeiteröffung in einem Essay zum „Brandstifter von Gent“ (NZZ). Denn bereits der „Genter Altar“ war vielen Kritikern fast zu „altmeisterlich“ (RTBF) oder gar „fromm“ (Der Spiegel) vorgekommen, die FAZ vermutete trotz der „mitreissenden Unbedingtheit“ ein „Theater von Bekehrten für Bekehrte“. In der kommenden Spielzeit nimmt sich Rau nun zwei weiterer Klassiker der europäischen Tradition an: Der „Orestie“ und der Bibel selbst. Während die oft scharf für ihre direkte und zynische Gewaltdarstellung kritisierten Genter Modell-Inszenierungen „Die Wiederholung“ und „Mitleid 2“ durch die Welt reisen, arbeiten Rau und sein Team bereits an einer Verfilmung des Evangeliums in der durch Pasolinis und Mel Gibsons Jesus-Filme berühmt gewordenen süditalienischen Stadt Matera (AT „Das Neue Evangelium“) und einer Neubearbeitung der ältesten Tragödien-Trilogie der Menschheitsgeschichte, Aischylos‘ „Oresteia“, für die Rau im November nach Mosul reisen wird.
„Breivik“ in Beirut: Umstrittene Rau-Performance reist in den Libanon
Wie im „Genter Altar“ will Rau in seiner Beschäftigung mit der Bibel und einer griechischen Tragödie einer der Grundfragen des „Genter Manifests“ nachgehen: Wie ist es möglich in einer globalisierten Welt, klassische Werke der europäischen Geistesgeschichte nicht nur zu adaptieren, sondern für heute neu zu schreiben? Zuerst aber kommt die Neubarbeitung einer älteren Performance von Milo Rau auf eine überraschende Bühne: die Lecture Performance „Breiviks Erklärung“ (2012) reist in den Libanon. Flankiert ist die Inszenierung von Raus Filmen, einer Masterclass und weiteren Events (die ganze Reihe hier).
The European Balcony Project: Wir rufen die europäische Republik aus!
„Das Europa der Nationalstaaten ist gescheitert. Wir begründen die Europäische Republik auf dem Grundsatz der allgemeinen politischen Gleichheit jenseits von Nationalität und Herkunft.“
(Manifest zur Ausrufung der Europäischen Republik von Robert Menasse, Ulrike Guérot und Milo Rau)
Der 10. November 2018 ist der Tag, an dem mit dem “European Balcony Project” europaweit Menschen auf über 100 öffentlichen Plätzen, in Theatern und auf Balkonen die Europäische Republik ausrufen werden. Am NTGent ist die u. a. von Elfriede Jelinek, Etienne Balibar, David Van Reybrouck oder Srecko Horvat unterstützte Manifestverlesung eingebettet in den „Art of Organizing Hope“-Kongress (organisiert zusammen mit Victoria Deluxe & Vooruit), an dem Aktivisten aus ganz Europa post-nationale und post-kapitalistische Strategien diskutieren werden: Demokratie für alle und alles!