„Von Höhepunkt zu Höhepunkt“ – das war 2018, das wird 2019

 

„From strength to strength“: 100 Tage NTGent

Es war der international wohl am aufmerksamsten beobachtete Neustart der Saison: Von der Libération bis zur New York Times, von der NZZ bis zur Süddeutschen Zeitung waren die Kritiker nach Gent gereist, um Raus „Pläne für das europäische Theater“ (Financial Times) und seine beiden ersten Stücke „Die Wiederholung“ und „Der Genter Altar“ mitzuverfolgen.
Nach der ersten Spielzeithälfte sind die Urteile euphorisch: „Milo Rau eilte 2018 von Höhepunkt zu Höhepunkt“, bilanzierte die New York Times und wählte „Die Wiederholung“ – das erste 2018 gemäß dem „Genter Manifest“ inszenierte Stück – zu den 10 besten Inszenierungen des Jahres. Zahlreiche Kritikerumfragen in insgesamt 6 Ländern taten es der New York Times gleich:  „Die Wiederholung“ landete auf einem guten Dutzend Bestenlisten, von den USA bis Deutschland und von Italien bis Frankreich. Das schönste Kompliment machte dem Stück aber wohl Le Temps. In ihrem Jahresrückblick urteilte die Genfer Zeitung:  „Für viele das Stück das Jahres, für einige das Stück ihres Lebens“.

 

Retrospektive für Milo Rau in Amsterdam 

„Kein anderer Regisseur war 2018 in Flandern und Europa so heiß diskutiert und umstritten wie Milo Rau“, schrieb De Tijd vergangene Woche in ihrem Jahresrückblicks-Interview. Während das belgische Fernsehen gerade einen Film zu den Hintergründen von „Der Genter Altar“ fertigstellt und das holländische Fachmagazin De Theaterkrankt eine  kritische Zwischenstands-Reportage über das „Stadttheater der Zukunft“ veröffentlicht, steht übernächste Woche die erste Retrospektive zu Raus theatralem Werk im nierderländischsprachigen Raum an: Das ITA – International Theater Amsterdam – konzentriert sich mit seinem Brandhaarden Festival  ganz auf das Werk des Schweizers.
Nachdem das Festival vergangenes Jahr dem englischen Ausnahme-Regisseur Peter Brook gewidmet war, steht die diesjährige Edition im Zeichen von Raus „Theater des Realen“: ab dem 24. Januar sind am Amsterdamer Traditionshaus u. a. „Der Genter Altar“, „Lenin“, „Die 120 Tage von Sodom“, „Empire“, „Die Wiederholung“ und „Five Easy Pieces“ zu sehen.

 

 

„Orestes in Mossul“, „Das Neue Evangelium“ und „Familie“: drei neue Projekte für 2019 

„Ist Milo Rau wirklich der kontroverseste Theaterregisseur der Welt?“, fragte die New York Times zur Genter Spielzeiteröffung. Bereits der „Genter Altar“, vom belgischen Kulturradio Klara als „Monument der Menschlichkeit“ auf den ersten Platz ihrer Jahresbestenliste gewählt, war vielen Kritikern fast zu „altmeisterlich“ (RTBF) vorgekommen. 2019 nimmt sich Rau nun zwei weiterer Klassiker der europäischen Tradition an: Der Orestie und der Bibel. Die Vorbereitungen zur Verfilmung des Evangeliums rund um die süditalienische Stadt Matera (AT „Das Neue Evangelium“) beginnen diese Woche. „In unserer Adaption des Evangeliums sollen alle Rollen von den Verlierern der heutigen Weltwirtschaft gespielt werden: von den durch die Getreideimporte in Konkurs gegangenen süditalienischen Bauern und den in Italien gestrandeten Flüchtlingen aus Afrika“, wie der Regisseur im Tagesanzeiger schreibt. Die öffentlichen Teile des Drehs – die Passion Christi bis zur Kreuzigung – finden im September in und um die Europäische Kulturhauptstadt Matera statt, der Film kommt voraussichtlich 2020 in die Kinos.
Für die  Neubearbeitung der Orestie mit einem Team aus europäischen und irakischen Künstlern (AT „Orestes in Mossul“) sind Rau, der Dramaturg Stefan Bläske und der Schauspieler Johan Leysen bereits im November nach Mossul  gereist. Im März werden, nach einer Arbeitsphase in Gent, die Proben in der ehemaligen Hochburg des Islamischen Staats weitergehen (Premiere 17. April 2019). „Als das Werk 458 vor Christus uraufgeführt wurde, war Mossul längst eine Weltstadt. Wenn Raus Adaption auf die Bühne kommt, wird Mossul noch immer ein Ort der Trümmer sein“, wie die Frankfurter Rundschau in einem Text zur Lage in Mossul schrieb.
Parallel zu diesen beiden internationalen Projekten schließt Rau mit der Produktion „Familie“ 2019  den mit „Five Easy Pieces“ (2016) und „Die Wiederholung“ (2018) begonnenen Zyklus „Belgian Crimes“ ab. „Familie“ wird wie „Orestes in Mossul“ mit Schauspielern des „global ensemble“ des NTGent erarbeitet und Anfang Januar 2020 Premiere feiern.

 

Kunst und Engagement: Debatten im Januar und Februar 

Neben den Gastspielen und Neuproduktionen – allein „Die Wiederholung“ wird 2019 auf vier Kontinenten zu sehen sein – beginnt auch dieses Jahr mit verschiedenen Diskussionsveranstaltungen. Wie entsteht ein Stück, was heißt „Globaler Realismus“ und wie gehen Engagement und Kunst zusammen? Im Januar wird Rau am International Theater Amsterdam oder in der Kaserne Basel  Einblicke in seine aktuellen Projekte geben, im Februar an der „Woche der Kritik“ zum Auftakt der Berlinale teilnehmen oder am Schauspiel Köln „Unter vier Augen“ mit Jakob Augstein („Der Freitag“) über seine Arbeit diskutieren.