Milo Rau kann nicht nach Russland reisen zur Verleihung des Europäischen Theaterpreises / Freiheit für Kirill Serebrennikow: Statements des Regisseurs Milo Rau und des Jury-Mitglieds Marina Davydova

 

„Schafft die Nationalstaaten ab!“, hatte Milo Rau vergangenes Wochenende anlässlich der Verlesung seines mit Ulrike Guérot und Robert Menasse verfassten Manifests zur Gründung einer „Europäischen Republik“ in 150 europäischen Städten gefordert. Nun sind dem Schweizer Regisseur die nationalen Grenzen selbst in die Quere gekommen. Rau sollte morgen Samstag in St. Petersburg mit dem von der EU-Kommission vergebenen „XV. Europe Prize Theatrical Realities“ ausgezeichnet werden, wie u. a. die Schweizer Depeschenagentur vergangenen September meldete. Wie die Zeitung „La Vanguardia“ heute berichtete, kann Rau an der Zeremonie zu den Europäischen Theaterpreisen jedoch nicht teilnehmen.

 

Seit seinem Projekt „Die Moskauer Prozesse“ (2013/14), in dem er sich kritisch mit der Kunstfreiheit in Russland auseinandergesetzt hat, verfügt Milo Rau über keine Einreisegenehmigung nach Russland mehr. Einladungen u. a. ans „Golden Mask Festival“ und an die „Manifesta“ waren an Visum-Problemen gescheitert. „Dass es sich nun wieder als zu schwierig erwiesen hat, ein Visum zu bekommen, überrascht mich nicht“, kommentiert Milo Rau. Nach mehrfachen Bemühungen der Veranstalter und nachdem Rau seine Reise nach Russland bereits absagen musste, wurde schliesslich heute Freitag Nachmittag plötzlich doch ein Visum in Aussicht gestellt – als klar war, dass Rau das Visum unmöglich noch an der zuständigen Botschaft in Antwerpen abholen konnte.

 

„Ich bin traurig, dass Milo Rau nicht nach St. Petersburg kommen kann“, kommentiert Marina Davydova, Mitglied der Jury des Europäischen Theaterpreises und Leiterin des NET-Festivals sowie Programmdirektorin der Wiener Festwochen 2016. Davydova zieht eine Parallele zum letztjährigen Gewinner Kirill Serebrennikow, der seit über einem Jahr in Moskau unter Hausarrest steht. „Die Situation ist absurd: Der Europäische Theaterpreise kommt nach Russland, und wir verlieren über Kirill, der letztes Jahr den Preis wie Milo nicht entgegennehmen konnte, kein Wort.“

 

„Dass ich nicht nach Russland fahren kann, ist eine reine Formalität, verglichen damit, dass Kirill Serebrennikow momentan im Hausarrest sitzt“, so auch Milo Rau. „Wie können wir in Russland den „Europäischen Theaterpreis“ feiern, ohne die Tatsache auch nur eines Wortes zu würdigen, dass im gleichen Land einer der letztjährigen Preisträger einem Schauprozess ausgeliefert wird? Warum dieses groteske Schweigen? Es ist Zeit, dass wir unsere Unterstützung für Kirill Serebrennikow klar zum Ausdruck bringen!“

 

Das komplette Statement des Regisseurs finden Sie hier im Anschluss.

 

 

Statement von Milo Rau anlässlich der Preisverleihung des Europäischen Theaterpreises

Am 17. November 2018 in St. Petersburg

 

Liebe Kollegen, sehr geehrte Jury,

wie Sie wohl bereits wissen, kann ich heute Abend nicht in St. Petersburg sein. Das tut mir sehr Leid, da ich mich über die Auszeichnung, die mir und meinen Mitarbeitern verliehen wird, extrem freue. Dass es sich als zu schwierig erwiesen hat, ein Visum für Russland zu bekommen, überrascht mich jedoch nicht.

Seit unserem Projekt „Die Moskauer Prozesse“ vor fünf Jahren, in dem wir uns kritisch mit der Kunstfreiheit in Russland auseinandergesetzt haben, konnten wir nicht mehr in dieses Land einreisen – sei es zur „Manifesta“ oder ans „Golden Mask Festival“ und an weitere Veranstaltungen. Immer gab es Probleme, diesmal etwa war das Einladungsschreiben inkorrekt, dann war eine andere Botschaft zuständig undsoweiter. Erst gestern Freitag erhielt ich plötzlich die überraschende Nachricht, ich könne in zwei Stunden auf die russische Botschaft in Antwerpen kommen. Zu einem Zeitpunkt, als ich nicht mal mehr in Belgien war – und in St. Petersburg die Vorstellung meines Films „Das Kongo Tribunal“ längst begonnen hatte.

Aber wie absurd das auch sein mag: Dass ich heute nicht bei Ihnen bin, ist völlig irrelevant. Es ist nicht mehr als eine dumme Formalität. So dumm, dass ich mir nicht einmal sicher bin, ob dahinter wirklich eine klare politische Absicht steht – so wie man das bei den russischen Behörden ja nie so genau weiss. Doch diese Erwägungen sind völlig irrelevant angesichts der Tatsache, dass der Regisseur Kirill Serebrennikow, der den gleichen Preis vor einem Jahr erhalten hat, momentan aufgrund grotesker Anklagen vor Gericht sitzt. Wie Sie wissen, konnte er den Preis 2017 nicht entgegen nehmen, weil er bereits damals in Hausarrest sass. Und da ist er immer noch, und wer weiss, wie lange noch.

Nun befinden wir uns also in der folgenden Situation: Der Europäische Theaterpreis kommt nach Russland, und wir verlieren über Kirill Serebrennikov, der im gleichen Russland von 10 Jahren Gefängnis bedroht ist, offiziell kein Wort. Wie können wir aber die Kraft und die Freiheit des Theaters, wie können wir uns selbst und den europäischen Austausch feiern, gleichzeitig aber darüber schweigen, dass einer der letztjährigen Preisträger einem Schauprozess ausgeliefert ist? Wollen wir der Welt wirklich dieses unwürdige Schauspiel liefern? Was bedeutet das für den Europäischen Theaterpreis und für uns, die Theatermacher insgesamt, wenn wir nicht einmal zu dieser einfachsten Form von Solidarität bereit sind?

In der Begründung für die Preisverleihung an mich und meine Mitarbeiter heisst es, dass wir für unser „leidenschaftliches Interesse an gesellschaftspolitischen Themen“ ausgezeichnet würden. Das ist schön formuliert, konkret heisst das aber: Serebrennikows Fall ist auch mein, auch unser Fall, so wie es der Fall von Pussy Riot oder der von orthodoxen Vandalen zerstörten Ausstellungen „Verbotene Kunst“ und „Achtung! Religion“ im Sacharow-Zentrum waren, die ich in den „Moskauer Prozessen“ zum Thema gemacht habe. Ich bedaure sehr, dass ich in diesem Moment nicht bei Ihnen sein kann. Es kommt mir falsch und ungenügend vor, ein Statement zu schicken. Aber leider bleibt mir keine andere Möglichkeit, und vielleicht ist auch das nur ein Teil dieser ganzen absurden Situation: dass sogar Protest nur noch per Email möglich ist.

Es ist Zeit, dass wir alle unsere Unterstützung für Kirill Serebrennikow zum Ausdruck bringen – im Namen dieses Preises und des Theaters! Ich hoffe, dass dieser dumme Prozess, dem Kirill ausgesetzt ist, bald vorbei und er wieder frei ist! Und natürlich hoffe ich, dass wir uns bald alle persönlich treffen können!

Ich danke Ihnen!

 

Milo Rau, Köln, 17. November 2018