„Dazu ist eine Bühne, dazu ist Theater da“ – das war 2017, das wird 2018

 

Auszeichnungen und Nominierungen

 

Nach der „Saarbrücker Poetikdozentur für Dramatik“ im Frühjahr 2017 – die nächstes Jahr im Berliner Alexander-Verlag als Buch erscheint – wurde Milo Rau, den die ZEIT kürzlich den „einflussreichsten Regisseur des Kontinents“ nannte, in der Kritikerumfrage der Deutschen Bühne Ende des Sommers zum „Schauspielregisseur des Jahres“ gewählt und erhielt von der Stadt Bochum den Peter-Weiss-Preis. In ihrer Laudatio sah die Friedenspreisträgerin Carolin Emcke Raus Arbeiten für Theater und Film in der humanistischen Tradition des Dichters der „Dialektik des Widerstands“: „Milo Raus Inszenierungen wehren sich gegen das Unmögliche, das Unveränderliche, das Starre einer als alternativlos behaupteten Gewalt oder Unterdrückung. Rau sucht nach der Wahrheit des Möglichen und ihren Bedingungen.

Das in Kooperation mit CAMPO Gent entstandene Kinderstück „Five Easy Pieces“ wurde  vergangenes Wochenende mit dem Premio Ubu, dem wichtigsten Preis für Darstellende Kunst in Italien, als „Bestes ausländisches Stück 2017“ ausgezeichnet. Die von der Kritik hochgelobte Inszenierung erhielt u. a. beim Berliner Theatertreffen 2017 den 3-Sat-Preisund wurde bei der Kritikerumfrage der Zeitschrift „Theater Heute“ zur „Inszenierung des Jahres“ und als „Beste Dramaturgie“ auf den 1. Platz gewählt und schaffte es u. a. aber auch in Belgien und den Niederlanden auf die jeweiligen nationalen Bestentreffen.

Ebenfalls im Dezember kam der „bahnbrechende“ (TAZ) Dokumentarfilm „Das Kongo Tribunal“ in die Vorauswahl zum Deutschen Filmpreis LOLA 2018 der Deutschen Filmakademie. Der mit dem renommierten Zürcher Filmpreis – „Der Filmemacher adelt das Kino und macht das, was die Realität nicht kann“, so die Jury – ausgezeichnete, am Filmfestival Locarno und am DOK Leipzig uraufgeführte Film läuft seit November in Deutschland und der Schweiz erfolgreich in den Kinos. Nach der Kongo-Tour im vergangenen Juli geht die Tour des Films auch im nicht-deutschsprachigen Ausland weiter: auf zahllosen Festivals weltweit, von Rotterdam bis Paris – und natürlich auch anlässlich zahlreicher Spezialvorführungen in Deutschland, zu Beginn des Jahres etwa in Berlin an der Berliner Akademie der Künste (9. März) oder im Rahmen der LOLA-Reihe auf der Berlinale (Februar) und im näheren Ausland in Brüssel am BOZAR, in Kooperation mit dem EU-Parlament (29. Januar). Umfangreiche, multimediale Ausstellungen zum Projekt finden 2018 u. a. in Leuven und in Den Haag statt.

 

Viele Neuproduktionen und zahllose Gastspiele: Theater und Touring

 

2017 entwickelte und inszenierte Milo Rau zwei neue Theaterstücke. Das am Schauspielhaus Zürich in Zusammenarbeit mit dem Theater HORA entstandene Stück „Die 120 Tage von Sodom“ (UA 10. Februar 2017) über Pasolinis Skandalfilm mit Menschen mit geistiger Behinderung war bei Publikum und Kritik hoch umstritten: „Der stärkste Tobak, der je auf einer schweizer Bühne gezeigt wurde“, beklagte sich etwa die einheimische Berner Zeitung. Die Inszenierung „LENIN“ (UA 19. Oktober 2017) an der Berliner Schaubühne ist ein Abgesang auf die russische Revolution und ein Formexperiment darüber, was Naturalismus und Materialismus bedeuten und wie Menschen zu Ikonen (gemacht) werden: Die einen Kritiker sahen einen „Massenmörder mit Heiligenschein“ (Süddeutsche), die anderen Theater, das „artistisch auf höchstem Niveau“ war (Deutschlandradio).

Neben den Neuproduktionen sind auch die älteren Produktionen des IIPM und seiner Kooperationspartner weiterhin auf Tour: „Empire“ war 2017 – neben zahlreichen internationalen Festivals und Spielorten – zu drei „Besten-Treffen“, beim Heidelberger Stückemarkt, den Mülheimer Theatertagen und dem Schweizer Theatertreffen eingeladen. „Das beste Stück des Jahres“, urteilte etwa die Zeitschrift De Tijd anlässlich der Brüsseler Gastspiele. „Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs“ feiert im Januar seine 100. Vorstellung – mit Gastspielen von Madrid bis Belfast. Für „Five Easy Pieces“ musste aufgrund der hohen Nachfrage ein weiteres Team gecastet werden, nun touren zwei Versionen gleichzeitig um die Welt und waren 2017 von Buenos Aires bis Warschau zu sehen. Auch international nimmt der Preisregen für die bereits in über 15 Ländern gezeigte – und auch vergangenes Jahr in vielen Städten, u. a. Manchester, Paris und Frankfurt von öffentlichen Debatten und Verboten begleitete – „beste Inszenierung der letzten 10, 15 Jahre“ (RTBF) kein Ende, so etwa im September beim MESS-Festival in Sarajewo (Preis für die beste Inszenierung, Preis der Kritik, Publikums-Preis).

 

Das Weltparlament: Symbolischer Entwurf des Zukünftigen

 

Gemäß seinem Ansatz aus dem „Kongo Tribunal“ – jenen, die keine Lobby haben, eine Stimme zu geben – versammelten Milo Rau und das IIPM im November in der „General Assembly“ (Schaubühne Berlin) 60 Aktivist*innen und Menschen aus der ganzen Welt, die von der deutschen Politik betroffen sind, aber kein Mitspracherecht und keine Repräsentanten haben. Das „erste Weltparlament der Menschheitsgeschichte“ – „ein größenwahnsinniges aber auch ermutigendes Experiment“, urteilte etwa die Süddeutsche Zeitung, „dazu ist eine Bühne, dazu ist Theater da“, schrieb die Berliner Zeitung – gipfelte in der Performance „Sturm auf den Reichstag“ am 7. November, an der 500 Beteiligte – darunter auch Bundestagsabgeordnete – teilnahmen, um ein friedliches Bild für internationale Solidarität zu schaffen. In den auf das „Weltparlament“ folgenden Wochen wurde eine „Charta für das 21. Jahrhundert“ ausgearbeitet, die Anfang des Jahres präsentiert werden wird. Bis April läuft auch die Ausstellung „Sturm auf den Winterpalast“ am HMKV Dortmund, in der das Weltparlament und sein „charmanter Abschluss“ (BR), der „Sturm auf den Reichstag“, umfangreich filmisch dokumentiert ist (Regie Doku-Film: Patricia Corniciuc).

 

Fünf neue Bücher

 

2017 war mit insgesamt fünf Publikationen auch ein reiches Jahr der Reflexion. Im Februar war die Zürcher Premiere Anlass für ein Buch, das die Stückabdrucke von „Five Easy Pieces“ und „Die 120 Tage von Sodom“ vereint und die Zusammenhänge zwischen diesen beiden Inszenierungen beleuchtet. Ebenso beim Verbrecher Verlag erschien zur Berliner Premiere im Oktober der Band „LENIN“, mit Originalbeiträgen und wissenschaftlichen Annotationen (beide Bücher hg. von Stefan Bläske). Das gleichnamige Buch zum Kinostart von „Das Kongo Tribunal“ ist mit Zeugenaussagen, Statements der internationalen Jury, Reden, Interviews, den Plädoyers der Richter sowie den wichtigsten Analysen und Presseberichten eine interessante Ergänzung zum Theater- und Filmprojekt.

Von einer zweisprachigen Ausgabe beim Merve-Verlag wurde Milo Raus Weltparlament, die „General Assembly“ begleitet mit Beiträgen von u. a. Rolf Bossart, Can Dündar, Ulrike Guérot, Hannah Hurtzig, Wolfgang Kaleck, Robert Misik, Abou Bakar Sidibé und Harald Welzer. Der Band „Wiederholung und Ekstase“ von Milo Rau und Rolf Bossart erörtert Begriffe, die die ästhetische Theorie und Praxis des IIPM beschreiben, reflektieren und in einen allgemeinen Kontext stellen. Der umfangreiche Sammelband aus Manifesten, Essays und Gesprächen ist die bisher grundlegendste Zusammenfassung der Arbeit von Milo Rau und dem IIPM und ist im Diaphnes-Verlag erschienen.

 

Ausblick 2018: Genter Intendanz – und neue Stücke und Projekte

 

Die nächste Theaterproduktion von Milo Rau, „L’Histoire du Théâtre“, wird am 4. Mai 2018 beim Kunstenfestival in Brüssel (Théâtre National/Kunstenfestival) Premiere feiern und dann auf internationale Tour gehen, zunächst zu den Koproduzenten wie der Berliner Schaubühne, dem Théâtre Vidy Lausanne, ans Théâtre Nanterre-Amandiers Paris, an die Münchner Kammerspiele und viele weitere Festivals und Koproduktionshäuser – um dann, wie alle älteren Produktionen von Milo Rau und dem IIPM, als Teil des Repertoires des NTGent auf internationale Tour zu gehen.

Am Premierenwochenende im Mai wird auch das Programm der ersten Spielzeit am NTGent bekannt gegeben, zu dessen Intendant Rau ab der Spielzeit 2018/19 berufen wurde. Die Eröffnung der drei Häuser des NTGent findet am 24. September 2018 statt, mit einem Stadt- und Filmprojekt rund um das Wahrzeichen Gents, dem „Genter Altar“, sowie weiterer Inszenierungen, Konzerte und einer großen, das Theatergebäude sprengenden sozialen Pastik – als Auftakt einer aus zahlreichen Eigenproduktionen genauso wie Einladungen und Koproduktionen bestehenden Saison. Auch die „General Assembly“ wird fortgesetzt – die zweite Ausgabe des Weltparlaments wird, als Höhepunkt einer dem globalen Realismus gewidmeten Veranstaltungsreihe in verschiedenen Städten, in der EU-Hauptstadt Brüssel zur Europawahl 2019 stattfinden.