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In diesen Tagen geht das wohl verrückteste Jahr in der Geschichte des IIPM zu Ende: von Madrid bis Mossul, von Gent bis Zürich, von Sao Paulo bis Moskau und von Matera bis Taiwan waren unsere Stücke unterwegs, organisierten wir Aktionen, drehten wir Filme und debattierten mit Publikum und Presse. Aus Kunst wurde Auseinandersetzung, aus Auseinandersetzung […]
„So einflussreich wie einst Lars von Triers Dogma-Filme“: das war 2019!
In diesen Tagen geht das wohl verrückteste Jahr in der Geschichte des IIPM zu Ende: von Madrid bis Mossul, von Gent bis Zürich, von Sao Paulo bis Moskau und von Matera bis Taiwan waren unsere Stücke unterwegs, organisierten wir Aktionen, drehten wir Filme und debattierten mit Publikum und Presse. Aus Kunst wurde Auseinandersetzung, aus Auseinandersetzung Solidarität: Wohl über keine Produktion wurde vergangenes Jahr europaweit so viel diskutiert wie über den in mehreren Ländern zum „Stück des Jahres“ gewählten „Orest in Mossul“ – „vielleicht Milo Raus beste Produktion“ (Süddeutsche Zeitung), aber auch eine der umstrittensten seit Bestehen des IIPM. Am meisten Debatten erzeugten aber wohl die Neuverfilmung des Evangeliums in Süditalien: Zahlreiche Zeitungen, darunter auch die New York Times setzten den Jesus unseres „Neuen Evangeliums“ auf ihre Titelseiten und die katholische Kirche beschloss, die vom Jesus-Darsteller Yvan Sagnet gegründeten „Häuser der Würde“ finanziell zu unterstützen.
Unter anderem in England, den Niederlanden, Spanien und Frankreich schafften es 2019 unsere Produktionen „Die Wiederholung“ und „Orest in Mossul“ auf die Bestenlisten der Kritik und wurden mit dem französischen Kritikerpreis und dem italienischen Premio UBU als „bestes ausländisches Stück des Jahres“ ausgezeichnet. In Amsterdam und Sao Paulo wurden vergangenes Jahr Festivals der Arbeit von Milo Rau gewidmet, in Schweden wurde der Leiter des IIPM zum Ehrendoktor ernannt, in England für den „International Award“ nominiert. Die Welttour von „Five Easy Pieces“ kam nach fast 5 Jahren, 25 Ländern und über 200 Shows zu Weihnachten am NTGent an ihr Ende, während im nordbrasilianischen Amazonas bereits die Arbeit an „Antigone im Amazonas“ beginnt – nach „Orest in Mossul“ und „Das Neue Evangelium“ der Abschluss von Milo Raus „Antikentrilogie“.
Ende vergangenen Jahres wurde das neue NTGent mit Milo Raus „Genter Altar“ eröffnet – „ein Stück Theatergeschichte“, so Le Soir. Zwei Werkschauen in Amsterdam und Sao Paulo widmeten sich 2019 ausführlich der Arbeit des „legendären Theatermachers“ (Time Out), und gemeinsam mit dem Verbrecher Verlag wurde mit den „Golden Books“ eine mehrsprachige, bisher 4bändige Buchreihe ins Leben gerufen. Mit „Das geschichtliche Gefühl“ (Alexander Verlag) veröffentlichte Rau, der in St. Petersburg mit dem Europäischen Theaterpreis und an der Universität Lund mit einem Ehrendoktorat ausgezeichnet wurde, erstmals einen Überblick über seine theatrale Ästhetik. Das Buch, das aktuell ins Italienische und ins Französische übersetzt wird, wurde zum kleinen Verkaufserfolg und lag in Deutschland sogar an Bahnhofskiosken aus. Als Inhaber der Münsteraner Poetikdozentur führte Rau ab Oktober 2019 sein Konzept des „globalen Realismus“ mit der Vorlesungsreihe „Die Rückeroberung der Zukunft“ weiter, die nächstes Jahr im Rowohlt-Verlag unter dem gleichen Titel erscheint.
Auch im Bereich Theater war 2019 ein aussergewöhnliches Jahr: Allein Milo Raus „Die Wiederholung“ – das erste gemäß dem „Genter Manifest“ produzierte Stück – war vergangenes Jahr auf fünf Kontinenten unterwegs. Die 2019 unter anderem mit dem Preis der französischen Kritikervereinigung und dem italienischen Premio UBU als „bestes ausländisches Stück des Jahres“ ausgezeichnete und von der New York Times bereits 2018 zu den „zehn besten Stücken Europas“ gekürte Produktion, fand sich Ende 2019 unter anderem auf der Kritiker-Bestenliste von The Guardian.
Nicht anders „Orest in Mossul“: von Belgrad bis Zürich, von Madrid bis Rom führte das vergangenes Frühjahr in der ehemaligen Hauptstadt des Islamischen Staats produzierte „grössenwahnsinnige und grandiose“ Stück (Wiener Zeitung) zu Debatten bei Publikum und Kritik. Die Wochenmagazine der SZ und des Tagesanzeigers setzten das Stück auf ihre Titelseiten, die deutsche Theaterzeitung „Theater Heute“ widmete dem Projekt gleich zweimal seine Cover-Story, die New York Times, ARTE und De Standaard begleiteten Milo Rau nach Mossul. Während eine zu dem Projekt geschriebene Reportage den deutschen Reporterpreis gewann, wurde das Stück bisher in Kritiker*innenumfragen u. a. in Spanien, Frankreich, Italien und Holland zu den „Best-Of 2019“ gewählt.
Das schönste Umfrageergebnis kam aber wohl unter den niederländischsprachigen Kritiker*innen zustande: Milo Rau konnte hier Nennungen für das „Beste Stück“ („Orest in Mossul“), die „Beste Theatergesellschaft“ (NTGent), das „Beste Festival“ (das 2019 der Arbeit von Milo Rau gewidmete Brandhaarden-Festival) und das „Engagierteste Werk“ auf sich vereinigen. In der Schweiz schaffte es der Autor und Regisseur auf die Liste der „grössten Theaterleute des 21. Jahrhunderts„, das belgische Fernsehen widmete dem Regisseur zum Jahresausklang gar einen – durchaus kritischen – Film: „The Adoration„.
„Das Genter Theater ist ähnlich einflussreich fürs aktuelle Theater wie einst Lars von Triers Dogma-Filme für den Film“, beschrieb anlässlich der deutschen Premiere von „Orest in Mossul“ eine Zeitung den Einfluss der Theater- und Theoriearbeit Milo Raus. Das international größte Echo und die nachhaltigsten Debatten aber erzeugte vergangenes Jahr Milo Raus Neuverfilmung des Evangeliums im süditalienischen Matera. An der Seite von Pier Paolo Pasolinis Jesus (Enrique Irazoqui) und Mel Gibsons Heiligen Maria (Maia Morgenstern) war in der monumentalen Neuverfilmung erstmals im europäischen Film ein schwarzer Jesus zu sehen: der kamerunische Aktivist Yvan Sagnet. Über hundert Darsteller*innen aus allen Schichten der italienischen Gesellschaft, von afrikanischen Flüchtlingen bis zu führenden Politiker*innen, nahmen an den Dreharbeiten teil, Zeitungen und Fernsehstationen aus aller Welt berichteten. Die parallel geführte Kampagne „Revolte der Würde“ führte zur Gründung selbstverwalteter Flüchtlingsunterkünfte – unterdessen von der katholischen Kirche selbst anerkannt und finanziell unterstützt.
2019 war damit das zugleich globalste und nachhaltigste Jahr des IIPM. Das Experiment eines „Stadttheaters der Zukunft“ führte zu Auslastungszahlen vor Ort von fast 90 Prozent, ein Rekord in der Geschichte des NTGent. Gleichzeitig tourten IIPM- und NTGent-Produktionen auf allen Kontinenten, fanden Workshops von Hongkong über Münster bis Paris, von Sao Paulo über London bis Palermo statt und vertieften damit die Debatte über einen „Globalen Realismus“ jenseits von Nation und Geschlecht. Die von Milo Rau mit „Die Wiederholung“ begonnene Reihe „Geschichte des Theaters“ wurde von Faustin Linyekula am letzten Festival d’Avignon mit einem zweiten Kapitel fortgesetzt, das dritte wird kommende Spielzeit die Spanierin Angelica Liddell schreiben: eine genauso spielerische wie radikale „Geschichte“ eines Theaters von allen für alle.