Grabraub und Verletzung der Totenruhe: Ägypten fordert Restitution der Mumie Schepenese

 

“PIETÄTLOSE HABGIER”
PROTEST GEGEN GRABRAUB

 

In Offenen Briefen aus Ägypten und der Schweiz fordern über 1000 Ägyptolog*innen, Wissenschaftler*innen, Menschenrechtler*innen, Politiker*innen sowie Menschen der Zivilgesellschaft die würdige Aufbewahrung und spätere Restitution der in der St.Galler Stiftsbibliothek ausgestellten Mumie Schepenese. Interpellationen im St.Galler Stadt- und Kantonsrat untermauern den Wunsch nach Aufarbeitung des Falls. Wie können wir die ägyptische Forschungs- und Zivilgesellschaft in ihrem Kampf gegen Grabraub, Diktatur und Unrecht unterstützen?

 

“Ein Objekt europäischer Habgier.
St.Gallen verhält sich pietätlos.”
(Ägyptologe Jan Assmann)

 

„Lassen Sie uns gemeinsam für Gerechtigkeit kämpfen, gegen Plünderung und Raub“, forderten Ende letzter Woche in einem „Offenen Brief der Ägyptischen Forschungs- und Zivilgesellschaft“ über 200 prominente Erstunterzeichnende aus Ägypten von der St.Galler Stiftsbibliothek sowie der katholischen Kirche St.Gallens. Der Offene Brief, der von ägyptischen und schweizer Medien veröffentlicht wurde, fordert die würdige Aufbewahrung und Rückführung der im 19. Jahrhundert aus ihrem Grab geraubten Mumie Schepenese nach Ägypten, die Einsetzung einer Arbeitsgruppe und die Öffnung der Archive der Stiftsbibliothek. Der offizielle Antrag zur Restitution ist in Vorbereitung.

 

“Der Kampf um unsere kulturelle Vergangenheit und eine konsequente Aufarbeitung der Verbrechen des Kolonialismus öffnet ein Fenster des Austauschs und der Freiheit, das gerade in der aktuellen politischen Lage für die ägyptische Forschungs- und Zivilgesellschaft von aussergewöhnlicher Bedeutung ist”, so Monica Hanna, Professorin für Cultural Heritage, Assuan, und Mit-Initiatorin des Offenen Briefs. Zu den Unterzeichner*innen gehören Archäologie- und Ägyptologie-Professor*innen sämtlicher ägyptischer Universitäten sowie zahllose Menschenrechtler*innen, u. a. auch Bassem Ibrahim Bassem, der Generaldirektor der Abteilung für archäologische Stätten und Museen des Ministeriums für Altertümer.

 

Offener Brief

 

”Schepenese ist kein Objekt, sondern ein Subjekt.”
(Hoda El-Sada, Forum “Frauen und Erinnerung”)

 

Die Ägyptische Forschungs- und Zivilgesellschaft schaltet sich damit in eine Debatte um kulturelles Raubgut und die Ausstellung sterblicher Überreste ein, die die Schweiz seit mehreren Wochen bewegt: der Fall Schepenese. Die in der katholischen St.Galler Stiftsbibliothek aufbewahrte mumifizierte Leiche der altägyptischen Priesterin Schepenese war zu Beginn des 19. Jahrhunderts aus ihrem Grabmal geraubt worden. Bis zur Brust ausgewickelt wird sie dort in einem Glassarg gegen 18 Schweizer Franken (19,25 US-Dollar) pro Eintritt ausgestellt. Jedes Jahr bestaunen über 150‘000 Tourist*innen die „Hauptattraktion“ der weltberühmten Bibliothek, in der u. a. auch der älteste deutschsprachige Bibelkommentar untergebracht ist.

 

Dieser extreme Verstoss gegen alle kuratorischen, moralischen und juristischen Standards hatte Mitte November zu einem Skandal und einer bis heute andauernden Debatte geführt. Er sei “entsetzt”, so der Star-Ägyptologe Jan Assmann kürzlich in einem Interview, wie sich in der Stiftsbibliothek “an einem Objekt europäischer Habgier ergötzt” werde: “Wie kann man eine Mumie so auswickeln?” Der Künstler Milo Rau hatte sein Preisgeld des am 17. November verliehenen “St.Galler Kulturpreises” der Aufarbeitung des Falls Schepenese zur Verfügung gestellt. Über 100 Schweizer Forscher*innen, Ägyptolog*innen, Kulturschaffende und Politiker*innen forderten am gleichen Tag in der „St.Galler Erklärung für Schepenese“ das Ende der entwürdigenden Ausstellungspraxis und die Prüfung der Rückführung Schepeneses nach Ägypten.

 

Die “St.Galler Erklärung” wird u. a. von den mit kolonialer und faschistischer Raubkunst befassten Historiker*innen Bénédicte Savoy, Gesine Krüger, Jakob Tanner und Erich Keller sowie von Kulturschaffenden von Adolf Muschg über Sibylle Berg bis Kim de l’Horizon mitgetragen. Zahlreiche National- und Ständeräte unterstützen die gefordete Restitution. Die zuständigen Lokal-Regierungen befassen sich unterdessen mit dem Fall: “Die absolut unhaltbaren Umstände müssen sich ändern”, so hiess es in der vergangene Woche in der von 18 Parlamentarier*innen im St.Galler Stadtrat eingereichten Interpellation. Eine Interpellation im Kantonsrat doppelte nach: “Ist es richtig, wenn sterbliche Überreste einem breiten Publikum zur Schau gestellt werden?”

 

St. Galler Erklärung

 

”Es dürfte sich um eine Raubgrabung handeln.”
(Cornel Dora, Leiter Stiftsbibliothek)

 

Die ägyptische Forscherin und Menschenrechtlerin Monica Hanna sagt es klar: „Es gibt keinen besseren Zeitpunkt als den jetzigen, um die Fehler der Vergangenheit zu korrigieren.“ Denn kaum jemals lag ein moralisches und juristisches Verbrechen so klar zutage wie in dem Fall der Leiche der Schepenese. „Dass es sich bei der Mumie um Grabraub handelt, dürfte allen klar sein“, resümierte die Zeitung „Die Ostschweiz“ vor einigen Tagen die laufende Debatte. Auch der Leiter der Stiftsbibliothek, Cornel Dora, hält in der von ihm herausgegebenen Publikation „Schepenese. Die ägyptische Mumie der Stiftsbibliothek St.Gallen“ fest: „Die Särge der Schepenese dürften aus einer Raubgrabung stammen.“ (S. 59)

 

Doch Stiftsbibliothek und katholische Kirche fahren fort, diese Fakten gegen besseres Wissen abzustreiten und die unterdessen zahllosen Appelle aus der Schweiz und Ägypten, aus Politik und Zivilgesellschaft als “überspannt” zurückzuweisen. “Diese Mumie gehört dem Stiftsbezirk”, so der St.Galler Bischof Markus Büchel. “Schepenese ist kein Objekt, sondern ein Subjekt”, erwidert die ägyptische Forschungs- und Zivilgesellschaft in ihrem Offenen Brief, darunter Hoda El-Sada, Gründerin des Forums „Frauen und Erinnerung”. Der fast unglaublich bizarre Fall von Grabraub und Verletzung der Totenruhe sei nicht nur “interkulturell unsensibel”, sondern ein “pietätloser Gruseleffekt”, so der Ägyptologe Jan Assmann. Die Entwürdigung Schepeneses gefährde die “Reputation” St.Gallens, wie es in den Interpellationen in Stadt- und Kantonsrat heisst. Tausende Menschen haben unterdessen die Offenen Briefe in der Schweiz und Ägypten unterzeichnet.

 

Es gilt zu retten, was zu retten ist: Angesichts der fortgesetzten Weigerung der Stiftsbibliothek zum demokratischen Dialog mit der ägyptischen und schweizerischen Forschungs- und Zivilgesellschaft müssen Stadt und Kanton St.Gallen nun schnell eine ethisch und juristisch tragbare Lösung finden. Während die offizielle Restitution gemeinsam mit ägyptischen Forschungs- und Menschenrechtskreisen in die Wege geleitet wird, soll immerhin die erste Forderung der “St.Galler Erklärung” und des “Offenen Briefs aus Ägypten” schnell umgesetzt werden: Lasst die entblösste und damit gemäss altägyptischem Glauben der Verdammnis preisgegebene Leiche der Schepenese zurückkehren in ihre Umhüllung und ihre Särge!

 

Der “Fall Schepenese” stellt grundsätzliche Fragen an unsere Gesellschaft: Wie soll mit menschlichen Überresten aus „Raubgrabungen“ umgegangen werden? Ist es vertretbar, eine zur Kolonialzeit einer fremden Kultur geraubte Leiche gegen Geld als “Gruseleffekt” auszustellen? Und vor allem: Wie kann aus der internationalen Debatte etwas Gutes entstehen, ein Präzendenzfall für eine respektvolle kulturelle Zusammenarbeit? Wie kann der “Fall Schepense” ein Fenster öffnen für eine globale Erinnerungskultur jenseits von vergangener und aktueller Ausbeutung und Diktatur?

 

Solidarität mit den Toten! Solidarität mit der ägyptischen Forschungs- und Zivilgesellschaft! Für Menschenrechte und Demokratie, gegen Ausbeutung und Diktatur! Lasst Schepenese heimkehren!

 

Fragen & Fakten

 

„Die Ordnung der Macht muss gestört werden.“
Milo Rau zum “Fall Schepenese